Opium für den Schmerz
Warum die Opioidkrise Österreich nicht verschont hat
Während sich die Pharmaunternehmen der Familie Sackler in den USA für ihre Rolle in der Opioidkrise vor Gerichten verantworten müssen, versuchen sie auch hierzulande Opioide zu vermarkten – mit umstrittenen Methoden und möglicherweise fatalen Konsequenzen.
Recherche Muzayen Al-Youssef, Maria Christoph, Dajana Kollig, Laurin Lorenz
Produktion Michael Matzenberger
In einem Gasthof inmitten der Salzburger Alpen fand vor fast 30 Jahren ein Kongress statt, der das Schicksal unzähliger Suchtkranker in Europa besiegeln sollte. Umgeben von einer idyllischen Kulisse im Saalachtal trafen sich dort Vertreter eines Firmenimperiums mit ausgewählten Gästen.
Sie spielten gemeinsam Tennis, tranken Sekt – und tauschten sich zu jenem Medikament aus, das Jahre später die Opiodkrise in den USA auslösen sollte: Oxycontin.
Während am Kongress über das Marktpotenzial in Deutschland diskutiert wird, ist der Wirkstoff Oxycodon, der darin enthalten ist, noch nicht einmal zugelassen.
Die dafür zuständige deutsche Behörde lässt ihn erst ein Jahr später, 1998, zu, in Österreich passiert das 1999.
Interne Unterlagen aus einem Prozess gegen den US-Schwesterkonzern Purdue Pharma zeigen, dass damals schon große Pläne für einen neuen medizinischen Kassenschlager vorhanden waren. Ein hochrangiger Mitarbeiter, der auch auf dem Kongress in den Salzburger Alpen sprach, meldete seine Bedenken gegen die Pläne, Oxycontin möglichst ohne Betäubungsmittelstatus auf den deutschen Markt zu bringen, an.
„Ich bin sehr besorgt”, schreibt er in einer Mail an Richard Sackler, ein damaliges Vorstandsmitglied von Purdue Pharma.
„Ich glaube nicht, dass wir stichhaltige Argumente dafür haben, dass für Oxycontin nur ein minimales oder kein Missbrauchsrisiko besteht”, schreibt er weiter.
Er schreibt auch, dass Oxycontin in den USA als eines der Opioide gilt, die am meisten missbräuchlich verwendet werden.
Mundipharma bestreitet auf Anfrage den Einfluss des US-Sackler-Konzerns: „Die Mundipharma-Unternehmen haben unabhängig von Purdue US agiert und ihre eigenen Geschäftsstrategien festgelegt.” Weiter erklärt die Firmengruppe, zur Markteinführung habe man „medizinische Fachleute" darauf hingewiesen, dass das Medikament ein „starkes Opioid” sei.
Werbematerial sei von Behörden geprüft worden. Generell arbeite man eng mit Behörden und Wissenschaftern zusammen, um möglichen Missbrauch zu überwachen. Die Firma teilte weiter mit: „Mundipharma befolgt strikt alle gesetzlichen und branchenspezifischen Richtlinien und Vorschriften bei der Zusammenarbeit mit Fachleuten des Gesundheitswesens.”
I. USA als warnendes Beispiel
Anderswo ist Oxycodon mittlerweile berüchtigt. Hunderttausende Tote, zerstörte Existenzen und unzählige Abhängige, die auf der Straße landen: Diese Bilder aus den USA erscheinen wie ein weit entfernter Albtraum. Bereits im Oktober 2017 erklärte der damalige US-Präsident Donald Trump die Opioidkrise zum „nationalen Gesundheitsnotstand“.
Heute sind sich Kritiker einig: Ein Auslöser für die Krise waren Pharmaunternehmen, die das Suchtpotenzial ihrer opioidhaltigen Tabletten hinunterspielten. Gleichzeitig sollen sie Ärztinnen und Ärzte davon überzeugt haben, dass mit starken Opioiden auch Rückenschmerzen, Arthritis und sogar Zahnschmerzen behandelt werden könnten – und die Gesellschaft damit in eine Suchtkrise gestürzt haben, wie es sie noch nie zuvor gegeben hat.
Davon ist Europa nicht verschont geblieben, wie eine Recherche des STANDARD gemeinsam mit dem ZDF, dem Spiegel, der Washington Post, dem auf Gesundheitsthemen spezialisierten Medium The Examination und weiteren internationalen Medienpartnern zeigt.
„Die Menschen haben eine gewisse Vorstellung davon, was in den USA passiert ist“, sagt der Wissenschafter und Arzt Andrew Kolodny. In den USA gilt er als „Opioid-Prophet“, da er einer der ersten Experten war, die vor der bevorstehenden Suchtepidemie warnten. Aber viele wüssten nicht, dass Pharmafirmen wie Mundipharma in Europa und anderswo nach genau demselben Schema vorgehen. „Wenn nichts unternommen wird, werden die Länder Europas dem amerikanischen Beispiel folgen“, sagt er.
Zahlen zu finden, die Kolodnys Warnung untermauern, ist nicht leicht: Wenig ist öffentlich verfügbar, die Dunkelziffern sind hoch, und die Interpretationen gehen auseinander. Dennoch fällt auch hierzulande immer wieder ein Name, wenn es um den kommerziellen Verkauf von Opioiden geht: Mundipharma – und die Familie Sackler, die hinter dem Unternehmen steht. Diese war einst vor allem als spendabler Mäzen von Kunst und Wissenschaft bekannt. Davon ist heute wenig übrig geblieben.
II. Mundipharma und die Sacklers
Mundipharmas österreichischer Arm setzte im Jahr 2022 rund 60 Millionen Euro um. Nach einem Gewinn von fast elf Millionen Euro im Jahr 2019 reduzierte dieser sich anschließend auf rund 1,5 Millionen Euro jährlich. Zum Vergleich: Der Pharmariese Pfizer setzte hierzulande im Geschäftsjahr 2021 etwa 644 Millionen Euro um.
Die Sacklers hatten intensive persönliche Beziehungen zu Österreich – und sahen auch einen wichtigen Markt, um ihre Profite zu steigern.
Dies zeigt eine interne Mail aus dem Jahr 2013, die dem Recherchekonsortium zugespielt wurde.
Darin will Mortimer Sackler Junior von einem Mundipharma-Mitarbeiter wissen, wieso die Verkaufserwartungen unter anderem in Deutschland, Österreich und der Schweiz so niedrig angesetzt seien.
„Warum dieser Konservativismus?“, fragt er.
Der Fünfjahresplan für die Region sei „völlig inakzeptabel“. Sackler drängt auf Vorschläge, was die Firma tun könne, um dort zu wachsen.
Die Pharmavertreter konnten zu diesem Zeitpunkt bereits auf ein breites Repertoire an sogenannten Marketingstrategien zurückgreifen, die den Firmen der Sacklers besonders in den USA mittlerweile zum Verhängnis geworden sind. 2024 gab und gibt es in den USA tausende Klagen gegen die dortige Sackler-Firma Purdue Pharma, die in die Insolvenz geflüchtet ist.
Hintergrund
Klagslawine in den USA
Tausende Klagen sind in den USA gegen die Sacklers und ihre Unternehmen eingegangen. Unter den Klägern sind Native Americans, Krankenhäuser und Bundesstaaten. Sie werfen ihnen vor, die Gefährlichkeit ihrer Schmerzmittel relativiert zu haben. Purdue Pharma flüchtete 2019 in die Insolvenz.
Anwälte verhandelten einen Deal, der die Mitglieder der Familie Sackler vor zivilen Klagen hätte schützen sollen – im Gegenzug hätten diese mehrere Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt, um die Opioidkrise zu bekämpfen.
Doch im Juni kippte der Supreme Court die Einigung und entschied, dass der Vergleich die Sacklers unrechtmäßig vor Klagen bewahrt hätte. Kritiker des Deals empfinden zudem die Summe als unangemessen – vor allem im Hinblick auf die elf Milliarden US-Dollar, die die Familie laut US-Gerichtsakten im Lauf der Jahre aus ihrem Unternehmen Purdue Pharma entnahm.
Derzeit helfen der Familie mutmaßlich die Einnahmen aus ihren europäischen Unternehmen, darunter auch Österreich, um ihren Reichtum zu halten. Wie hoch die Profite genau sind und wohin sie gehen, ist aufgrund der Verlagerung in undurchsichtige Finanzstandorte allerdings nur schwer nachvollziehbar. Die Familie Sackler streitet bis heute alle Vorwürfe ab.
III. Bezahlte Ärzte?
Europaweit förderte Mundipharma Vereine, die sich mit dem Thema Schmerz befassen. Hierzulande haben etwa die Schmerz-Allianz und die Österreichische Schmerzgesellschaft (ÖSG) in den vergangenen Jahren finanzielle Zuwendungen bekommen. Manche von ihnen zeichnen ein spezielles Bild von Ärztinnen und Ärzten sowie Patientinnen und Patienten: Österreich sei unterversorgt, der Zugang zu Opioiden zu schwer, es gebe zu viele Vorurteile. Sie sprechen von „Horrormeldungen aus den USA“ und verbreiten laut Kritikern irreführende Informationen.
Auf der Website der Schmerz-Allianz etwa heißt es, dass Opiate „ein sicheres und gut wirkendes Schmerzmittel“ seien, „bei dem Nebenwirkungen meist nur am Anfang auftreten“. Die Medikamente seien „gerade im Langzeitgebrauch nicht zu ersetzen“.
Förderungen der Branche
Diese Aussagen sind jedoch sehr problematisch, finden Experten wie Christoph Stein, Anästhesist an der Berliner Universitätsklinik Charité. Denn: Etwa bei chronischen Rückenschmerzen seien Opiate nur in sehr wenigen Einzelfällen zur Langzeitanwendung geeignet. Das sei auch in der Leitlinie für Opioide festgehalten.
Auf Anfrage bestätigt die ÖSG, Geld auch von Mundipharma erhalten zu haben. Die Zuwendungen fließen in einen Kongress zur Fortbildung von Fachleuten. Ob Mitglieder direkt Geld bekommen haben, sei dem Verein nicht bekannt, jedoch gelten branchenweit Regularien. Die Schmerz-Allianz bzw. ihr federführender Verein Eurag bestätigt auch, in der Vergangenheit insgesamt 6000 Euro von Mundipharma erhalten zu haben.
Sämtliche Sponsorbeiträge seien an keinerlei Bedingungen wie etwa die Empfehlung eines Medikaments geknüpft gewesen und seien etwa in die Kosten für die Website geflossen. Ab dem Jahr 2017 habe es außerdem keine Zuwendungen mehr von Mundipharma gegeben. Der Artikel auf der Webseite aus dem Jahr 2019 stehe „in keinem Zusammenhang“ mit den Geldern und reagiere „auf Medienberichte und die damit verursachte Verunsicherung bei SchmerzpatientInnen“.
Die Allianz, zu der auch eine Selbsthilfegruppe gehört, beteuert zudem, dass die eigene „Erfahrung“ und „Überzeugung“ zeige, dass die Angst, süchtig zu werden, bei richtiger Anwendung unbegründet sei. Die Mitarbeiter der Selbsthilfegruppe würden ehrenamtlich arbeiten.
„Es war genau so“
Die Recherchen belegen zudem, dass hunderte Fachleute in Europa, darunter Ärztinnen und Ärzte, von Mundipharma bezahlt wurden. Davon umfasst sind Honorare oder finanzielle Unterstützung für Forschungsprojekte, wie sie üblicherweise als Interessenkonflikte ausgewiesen werden. Manche von ihnen äußerten sich danach positiv zu den Produkten des Unternehmens. Zugleich beschäftigte Mundipharma Pharmavertreter, die bei Ärzten anklopften und Schmerzmittel anpriesen.
Ein Arzt, dem dies missfiel, erzählt dem STANDARD, wie penetrant ein Mundipharma-Vertreter auf ihn eingeredet habe, nachdem er ihn mit Kritik konfrontiert habe. Ein „Verhinderer zukunftsweisender Medizin“ sei er genannt worden. Eine Österreicherin, die einst hierzulande als Pharmavertreterin tätig war, wimmelt am Telefon sofort ab, merkt dann aber zum Abschied an: Man solle sich Painkiller auf Netflix ansehen – eine Serie über die skrupellosen Methoden der US-Pharmabranche und wie diese Menschen in die Abhängigkeit trieben. „Es war genau so“, sagt sie.
Mundipharma bestreitet
Mundipharma bestreitet auf Anfrage jegliche Vorwürfe und versichert, sich in der Zusammenarbeit mit Ärzten stets an geltende Regeln und Standards gehalten zu haben. Außerdem habe Mundipharma keine Ärzte bezahlt, um die Anwendung von Opioiden bei Nicht-Tumor-Schmerzen zu fördern.
Zu den Vereinsförderungen heißt es, dass eine „begrenzte, bedingungslose finanzielle Unterstützung“ gewährt werde, damit diese ihre Ziele erreichen und letztlich die Patientenversorgung verbessern können.
Das Unternehmen sagt, dass Mitglieder der Sackler-Familie vor längerer Zeit bei Mundipharma Führungspositionen innehatten, aber nicht ins Tagesgeschäft involviert gewesen seien. Ein Sprecher der Familie gibt an: Kein Mitglied habe jemals eine operative Rolle bei Mundipharma gehabt.
IV. Das Problem der Daten
Der Anästhesist Rudolf Likar, Generalsekretär der ÖSG, hat ebenso in der Vergangenheit von Mundipharma Geld für seine Forschung bekommen – etwa im Jahr 2013, nach eigenen Angaben zur Organisation eines Kongresses. Heute räumt er ein, dass der Einsatz von Opioiden bei Schmerzen in den vergangenen Jahrzehnten hierzulande teilweise falsch eingeschätzt worden sei.
Der neue, kritischere Blick auf Opioide habe sich vor allem im vergangenen Jahrzehnt etabliert. Auch die ÖSG müsse in dem Zusammenhang ihren veralteten Konsens in Bezug auf den Einsatz von Opioiden bei Nicht-Tumor-Patienten aktualisieren.
Likar findet dennoch, dass die Opioidkrise in den USA nicht eins zu eins auf Österreich übertragbar sei, trotz der hohen Verschreibungszahlen. Ohnedies kehre die Pharmabranche Opioiden derzeit den Rücken zu, aus Angst, sich zu verbrennen, wie er sagt. Stattdessen würden die Unternehmen aktuell Medikamente mit Cannabis erforschen.
Hintergrund
Opioide erobern Europa – und Österreich
In vielen Teilen Europas werden immer mehr opioidhaltige Medikamente verschrieben. Zugleich steigen in den vergangenen Jahren die Todeszahlen wegen Überdosen. Österreich wird in internationalen Studien immer wieder im Spitzenfeld genannt, wenn es um den Pro-Kopf-Konsum von Opioiden geht.
2023 wurden laut dem Branchenradar Iqvia 4,8 Millionen Packungen opioidhaltiger Medikamente verkauft. Damit stagnieren die Zahlen: So kam es während der Pandemie zu einem Rückgang, 2022 dann zu einem Anstieg um elf Prozent. Im Vorjahr waren die Verkäufe dann wieder rückläufig.
Zugleich erreichten 2022 die Todeszahlen in Österreich aufgrund von Überdosen einen neuen Höchststand. 248 Menschen starben – bei zumindest 161 von ihnen wurde festgestellt, dass sie Opioide zusammen mit anderen Drogen, etwa Alkohol, konsumiert hatten. Das Sozialministerium geht davon aus, dass bis zu 40.000 Menschen einen risikoreichen Konsum von Opioiden haben.
Mundipharma produziert legale Opioide, die viele Menschen in die Sucht führen – und dann auch das opioidhaltige Substitol, jenes Mittel, das in Suchttherapien Abhängigen verschrieben wird. In Österreich setzte die Firma 2022 mehr als 60 Millionen Euro um.
Ähnlich wie Likar argumentieren auch mehrere andere unabhängige Experten in Gesprächen. So schätzt auch der Psychologe Martin Busch, Leiter des Kompetenzzentrums Sucht der Gesundheit Österreich GmbH, die Situation um Opioide hierzulande derzeit als „stabil und gut unter Kontrolle“ ein.
„Zu viele verschrieben“
Hohe Verschreibungszahlen deuten laut Busch nicht zwingend auf ein Problem hin. Diese könnten auch damit zusammenhängen, dass Suchtkranke eher opioidhaltige Substitutionsmedikamente in Anspruch nehmen, statt beispielsweise Heroin auf der Straße zu konsumieren. Auch diese Medikamente werden teilweise von Mundipharma produziert.
Nach Berechnungen des STANDARD wurden rund 20 Prozent der opioidhaltigen Medikamente, die 2023 in Österreich verschrieben wurden, zur Substitutionstherapie eingesetzt.
Anderer Meinung als viele österreichische Experten ist der „Opioid-Prophet“ der USA, Andrew Kolodny: „Österreich hat einen hohen Opioidkonsum – zweifelsohne werden zu viele verschrieben.“
Daten fehlen
Ein großes Problem dabei, die Lage adäquat einschätzen zu können, ist laut Psychologe Martin Busch das enorme Defizit an Daten. So müssen Unternehmen hierzulande ihre Verkäufe nicht umfassend offenlegen, weshalb den Behörden nur Informationen zu Medikamenten vorliegen, die teurer sind als die Rezeptgebühr. Vollständige Daten legt die Branche für gewöhnlich nur gegen Bezahlung offen.
Das entspricht auch dem Fazit mehrerer Experten: Ohne vollständige Daten sei es unmöglich, die Lage umfassend zu überwachen und eine mögliche Opioidkrise frühzeitig zu erkennen, geschweige denn durch Maßnahmen zu reagieren. Das gelte für alle süchtigmachenden Medikamente. (Muzayen Al-Youssef, Maria Christoph, Dajana Kollig, Laurin Lorenz, Michael Matzenberger, 17.9.2024)
Fotocredits (nach der Reihenfolge des Auftretens):
• AP, Reuters, Adobe Stock
• Reuters/George Frey/File Photo
• Brandeis Universität, USA
• imago/onemorepicture
• Eric Baradat / AFP
• Reuters/George Frey/File Photo
• Stephane De Sakutin / AFP
© STANDARD Verlagsgesellschaft m.b.H. 2024
Alle Rechte vorbehalten. Nutzung ausschließlich für den privaten Eigenbedarf.
Eine Weiterverwendung und Reproduktion über den persönlichen Gebrauch hinaus ist nicht gestattet.
derStandard.de / derStandard.at
Impressum & Offenlegung / Datenschutz / AGB